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Punksplitter

1983: Anders reisen - Rattes erster Trip

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Berlin war meine Stadt. Obwohl irgendwie dreckig und kaputt, herrschte eine unglaubliche Energie. Anfang der 1980er wurden immer mehr leerstehende Häuser besetzt. Es gab zu wenig Wohnraum und zu viele Bonzen, die mit ihren Immobilien spekulierten. Ständig hörte man in den Nachrichten von Besetzungen und deren Räumungen und daraus resultierenden Unruhen. Nachrichten, die ich aufmerksam verfolgte. Mich faszinierten die Menschen, die anscheinend vor niemandem Angst hatten, die sich gegen den Kapitalismus wandten, die sich nichts gefallen ließen. Diese spannenden Leute wollte ich kennenlernen.

Ich bin in Berlin-West geboren und aufgewachsen. Als ich zehn war, änderte sich mein Schulweg: Aus fünf Minuten Fußweg wurden drei Stationen mit der U-Bahn. Dadurch erweiterte sich auch mein Bewegungsradius; ich bekam eine Monatskarte. Da sich niemand dafür interessierte, was ich so den lieben langen Tag trieb, wenn ich nur regelmäßig zur Schule ging, pünktlich daheim war und meine Hausaufgaben gemacht hatte, erweiterte ich meinen Radius kontinuierlich. So traf ich auf jede Menge spannender Leute.

Es begann mit Punks in Charlottenburg, dann folgten Steglitz und Schöneberg. In Steglitz bekam ich meinen ersten Punk-Namen. Irgendwer behauptete, mit meinen kurzen Haaren und dem langen Zopf am Hinterkopf sähe ich im Profil wie 'ne Ratte aus. Im Laufe der Zeit kamen weitere Namen hinzu - etwa Zwiebel, weil ich eine Zeitlang die kurzen Haare ganz oben auf dem Kopf zu einem Zopf zusammengebunden trug. Kreisgrinser war ein anderer Name: »Dein Mund ist so breit; wenn du keine Ohren hättest, könntest du im Kreis grinsen!« Aber dann setzte sich doch Ratte in den Köpfen der Leute fest.

Jahre später, ich war längst Mutter geworden, nannten mich alle immer noch Ratte. Aber als ich mich bei gutbürgerlichen, vorbildlichen Eltern mit »Hi, ich bin Ratte, Toms Mutter« vorstellte, wurden die skeptischen Blicke noch misstrauischer. Als Mike, ein alter Freund,  irgendwann nach Thailand ausgewandert war, 2001 mal wieder in Berlin weilte, fragte ich ihn: "Wie würden mich eigentlich die Thais nennen?"

Nach kurzem Überlegen kam er mit kela um die Ecke. Das gefiel mir sehr gut. Seitdem bin ich in gewissen Kreisen als kela bekannt. Leute, denen ich nur oberflächlich begegne (die Bäckerin, der Postbote, die Leute in der Nachbarschaft) nennen mich in der Regel Die Bunte, Frau Lila oder Frau Grün.

Mike hatte mir bereits in den frühen Achtzigern mein Stacheldrahtarmbad am Handgelenk verpasst hat. Ich hatte ihn übers Besetz-A-Eck kennengelernt - in jener Zeit eines von vielen besetzten Häusern. Gelegen am Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg, wurde es am 18. Juni 1983 geräumt. Die Bullen übten sich mit dem Hab und Gut der Besetzer im Weit- und Tiefwurf. Selbst die Ratten in den Käfigen wurden aus den Fenstern geworfen. Die meisten starben.

Soweit ich weiß, hatte das Rote Kreuz in Absprache mit dem Pfarrer der St.-Thomas-Kirche am Mariannenplatz, unweit des Heinrichplatzes, ein Zeltlager aufgebaut, damit die Geräumten ihre übriggebliebene Habe und sich selbst irgendwo unterbringen konnten. Fünf Zehn-Mann-Schlafzelte und ein großes Gemeinschaftszelt für Kühlschrank, Herd und so. Den Strom bekamen wir von der Kirche, und einen Wasseranschluss gab es auch.

Ich war fünfzehn und ging noch zur Schule. Inzwischen hatte ich Kreuzberg Süd-Ost als den für mich spannendsten Ort ausgemacht. Nach der Schule trieb ich mich daher am liebsten in Kreuzberg 36 rum. Ich lernte die Kotti-Punks und die aus dem Besetz-A-Eck kennen.

Mit Su verstand ich mich am besten. Su war in meinen Alter und so viel selbstsicherer und frech, während ich eher ein Schisser war. Mich aufzulehnen hatte ich mich bisher nie getraut. Su wurde meine erste richtige Freundin, bei ihr fühlte ich mich verstanden und geborgen und sicher. Mike hingegen verpasste mir auf der Wiese vorm Zeltlager am Mariannenplatz meine ersten beiden Tattoos. Seitdem habe ich am rechten Handgelenk ein Stacheldrahtband -  genauso wie Su; das sollte uns für immer verbinden. Zu Mike hatte ich kurz nach dem Tsunami das letzte Mal e-mail-Kontakt. Den Tsunami hatte er also überstanden. Auf Punkfoto habe ich dann erfahren, dass er inzwischen verstorben ist. Ich erinnere mich gerne an ihn, wir hatte tolle Zeiten miteinander.

Mitte Juli, Sommerferien: Su kam zu mir und sagte, dass sie sich jetzt einen Trip kaufen und dann mit Tom nach Oelde fahren würde, um seine Eltern zu besuchen. Wer oder was war denn bitteschön »Oelde«? - Ich fand’s heraus: ein Kaff irgendwo zwischen Dortmund und Bielefeld! Für mich war es damals nur schwer vorstellbar, dass außerhalb Berlins Menschen lebten - freiwillig! Alles außerhalb Berlins erschien mir winzig und unbedeutend.

Ich fand die Idee, einen Trip auszuprobieren, klasse. Die 10 Mack, die ich gerade auf Tasche hatte, reichten auch, um mir selbst einen zu kaufen. Meinen ersten. Ich klinkte die rote Pyramide ein.

»Wenn ich euch jetzt nach Dreilinden begleite, komm' ich noch pünktlich nach Hause«, erklärte ich Su. Punk hin oder her - ich hatte trotzdem mächtig Schiß vor meiner Erzeugerin! Nicht, dass sie mich geschlagen hätte, aber ich hatte keine Lust, tagelang daheim angeschwiegen und mit Missachtung gestraft zu werden, weil ich mal wieder nicht funktioniert hatte. Auf der anderen Seite zählte für mich nur, mit Su und Tom zusammen zu sein und etwas Ungewöhnliches zu tun.

Also, Pille einklinken, ab in den Bus, auf nach Dreilinden!

Unterwegs fragten mich Su und Tom: »Merkst du schon was?«

»Merken? Wovon? Ich merke nix«, antwortete ich.

Irgendwann fing ich jedoch an zu kichern und mich eigenartig »frei« zu fühlen. Also schien der Trip doch zu wirken. Und irgendwann wollte ich nur noch tun, worauf ich gerade Lust hatte. Obwohl ich insgeheim mächtig Schiss vor den Konsequenzen hatte.

Egal - kurz vor dem Grenzübergang Dreilinden entschloss ich mich, Su und Tom auf ihrer Fahrt gen Westen zu begleiten. Statt also auf der anderen Straßenseite in den nächsten Bus zurück in die Stadt zu steigen, ging ich mit den beiden runter zur Autoschlange an der Grenzübergangsstelle Dreilinden. Mit einem Mal hatte ich gar keine Angst mehr; der Ärger, den meine Entscheidung nach sich ziehen würde, war mir plötzlich egal. Ich warf alle Bedenken über Bord und tat etwas, was ich mich vorher nie getraut hätte: Ich lehnte mich auf!

Nach ungefähr zehn Minuten hielt ein roter Porsche. Der Fahrer öffnete die Tür, laute Musik klang heraus. Und er hatte tatsächlich Platz für uns drei.

Nach der Grenzkontrolle fuhren wir auf der Transitstrecke mit David Bowie im Kassettenrekorder dem Sonnenuntergang entgegen. Die phänomenale Wirkung der roten Pyramide tat ihr übriges: So etwas Schönes hatte ich vorher noch nie erlebt. Nie zuvor hatte ich mich noch so wohl und frei und im Einklang mit mir selbst gefühlt.

An Halluzinationen oder ähnliches kann ich mich nicht mehr erinnern. Alles war einfach nur Gefühl und Affekt. Nicht gesteuert. Ich ließ mich treiben, ohne nachzudenken.

Wir kamen irgendwann abends in Braunschweig an. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern. Da war eine Kneipe, eine Baustelle und irgendwann ein junger Student, der uns drei letztlich bei sich pennen ließ.

Am nächsten Morgen wies er uns den Weg zur nächsten Tankstelle. Es dauerte auch nicht lange, bis ein LKW-Fahrer bereit war, Su und mich mitzunehmen. Tom sagte, dass er uns später folgen würde.

Nach einer Weile ließ uns der LKW-Fahrer an der Abfahrt Oelde raus – mitten auf dem Seitenstreifen der Autobahn! Su und ich legten uns erst mal hinter der Leitplanke ins Gras, um ein wenig zu schlafen.

Dieses Körpergefühl, das sich einstellte, als ich vom Trip herunterkam, war für mich ebenfalls etwas völlig Neues. Ein Ziehen, ein Dehnen, ein aus-den-Fugen-geraten-und-sich-wieder-zusammenfügen. Ein Gefühl, auf das ich mich später bei jedem weiteren Trip freute. Später entdeckte ich, dass Käsebörek das ideale Kaugefühl erzeugte, um dieses Körpergefühl zu verstärken.

Als wir aufwachten, standen zwei Bullen vor uns.

»Wisst ihr, dass es verdammt gefährlich ist, hier zu schlafen?«, schnauzte uns einer der beiden an. »Und genau deshalb verboten!«

Wir rafften uns auf und liefen die Auffahrt hinunter Richtung Ortschaft. Schon bald wurden wir das zweite Mal kontrolliert und ermahnt. »Ja, ja, schon gut!«, sagte ich. »Ab sofort sind wir zwei ganz brave Mädchen!«

Kurz darauf erfolgte die dritte Kontrolle. Gähn. Beim vierten Mal hatten wir wohl das Glück, an den Obermotz zu geraten. Der beließ es nicht bei einer einfachen Kontrolle und Ermahnung, sondern nahm uns mit auf's Revier und telefonierte wild herum, weil wir als Minderjährige allein unterwegs waren. »Und wie die auch aussehen!«, ereiferte er sich.

Irgendwie erreichte er meine Erzeugerin und ihren Mann, die prompt darauf bestanden, mich abzuholen. Sus Leute hingegen waren da nicht so hinterher.

Wir mussten also eine Nacht in Gewahrsam verbringen. Allerdings gab es in Oelde keine abschließbaren, zellenartigen Räume, weswegen man uns über drei Dörfer kutschierte, bis wir in einer Feuerwache mit abschließbarer Tür, Etagenbett, Tisch und zwei Stühlen landeten.

Am nächsten Morgen wurde ich in die Obhut des mittlerweile aus Berlin angereisten Empfangskommandos übergeben. Su wollten sie nicht mitnehmen. Was ich davon hielt, kann man sich vorstellen.

Wie Su nach Berlin zurückgekommen ist? Keine Ahnung. Und ob Tom seine Leute besucht hat, weiß ich auch nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch, wie wir kurz nach Beginn der Heimfahrt auf einem Rastplatz anhielten. Ich musste irgendwelche Sachen anziehen, die sie mir mitgebracht hatten. Das Zeugs war zwar schon meins und auch selbstgemacht, aber viel langweiliger als das, was ich bis dahin getragen hatte. Genau diese Sachen - meine liebsten! - warfen meine Eltern auf dem Rastplatz in einen Mülleimer. Den Rock, den mir mein erster Freund zusammen mit seinem Bruder zum Geburtstag selbst genäht hatte. Ein Nietengürtel mit Totenkopfschnalle, den mir Su geschenkt hatte. Ein Hundehalsband, das mir meine lieben Nachbarn geschenkt hatten, nachdem ihr geliebter Hund verstorben war. Alles weg.

Zurück in Berlin musste ich ein paar Dinge einpacken, dann ging es zum Jugendamt.

»Hier - kümmert ihr euch darum, ich habe keine Lust mehr!« erklärte meine Erzeugerin. Dann ging es gleich weiter zum Jugendnotdienst, wo ich zwei Nächte blieb. Das wurde mir dann aber zu doof. Lieber zog ich in das Zeltlager am Mariannenplatz, wo sie in einem der Zelte noch eine Matratze für mich frei hatten.

»Free at last, free at last, thanks god almighty, I’m free at last.«

- Martin Luther King -

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