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Punksplitter

Kartoffeln in der Weyerstrasse

Boring Suburbia 8

von

Wir sind die
Ratten und leben
in der Scheiße!

(*VkJ 1982)

 

„Guten Tag, wir kommen aus der besetzten Straße, wir sammeln Geld für unser Abendessen. Hätten Sie vielleicht etwas Kleingeld für uns?«

»Geht arbeiten ihr arbeitsscheues Gesindel, früher hätte man sowas wie euch vergast!«

Der alte Mann mochte offenbar keine Punks. Paul, Uwe und Siegfried, genannt Siggi, ignorierten den offensichtlich geistig im Dritten Reich hängengebliebenen Alten. »Besetzte Straße?«, fragte Paul. »Musst du immer gleich so übertreiben Siggi? »Apropos Abendessen, schaut mal hier:« Uwe zog einen kleinen Bolzenschneider aus seiner Jacke.«Gut, Du hast daran gedacht«, sagte Paul.

»Mal sehen, ob die Kartoffeln im DESUMA noch im Angebot sind.«

DESUMA stand für »Deutscher Supermarkt«, und die nächste Filiale war nicht weit entfernt von den besetzten Häusern in der Friedrich- und Weyerstrasse.

Wie erwartet stand vor dem Eingang ein bis über den Rand mit Kartoffelsäcken gefüllter großer Einkaufswagen mit einem auffälligen Pappschild. Die provozierende Aufschrift lautete: Angebot. Den Wagen hatten sie schon am Vortag für das Abendessen requirieren wollen, wurden aber von einer Eisenkette mit Vorhängeschloss daran gehindert. Nun, das sollte dank dem Bolzi kein Problem darstellen. Das Vorhängeschloss erwies sich als zu stark für den kleinen Bolzenschneider, aber die Kettenglieder leisteten praktisch keinen widerstand. Paul verbarg Kette und Schloss unter den Kartoffeln, und los ging es Richtung Haus.

Die Passanten schienen an den drei Punks mit dem Einkaufwagen voller Kartoffeln nichts Ungewöhnliches zu finden. Nur eine von drei alten Damen konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen: »Den Einkaufswagen bringen die bestimmt nicht wieder zurück! », sagte sie kopfschüttelnd.«

Das Tor an der Friedrichstraße war natürlich von innen verriegelt. Daher marschierten Uwe und Paul um die Ecke zur Weyerstrasse, wo es gut einhundert Meter weiter einen verstecken Zugang durch eine Lücke im Zaun gab. Siggi der von den Dreien noch am unauffälligsten wirkte, bewachte unterdessen die Beute.

 

Der Raum, den sie durchquerten, gehörte zu einem aufgelassenen Möbellager.

Eine zehnstufige Metalltreppe führte hinauf in eine kleine Halle die ca einen Meter oberhalb des Erdgeschosses der umgebenden Häuser lag.

Der Rand des kleinen Saales diente ausschließlich als Durchgang zu den anderen Gebäuden des Geländes .

Der Fußboden bestand aus grauem PVC. Es stank.

Wer sich hier auskannte, mied den Blick nach links in den Raum. Wer neu war, nicht stur geradeaus schaute und flach atmete, musste unweigerlich würgen.

»Scheiße!« Der Raum war voller stinkender Menschenscheiße!

Jeweils vier graue PVC-Platten bildeten eine Fläche von einem Quadratmeter. Abgesehen von dem kleinen Durchgang auf der Nordseite war jede Vierergruppe Bodenplatten mit je einem Haufen Scheiße in unterschiedlichen Stadien der Zersetzung und Besiedelung belegt. Daneben lagen kotverschmierte Fetzen Zeitungspapier. Fliegen summten.

Der kleine Saal hätte sich sicher für Veranstaltungen und als Besetzerkneipe geeignet. Leider war der Großteil der Bewohnerschaft zu sehr mit Beschaffung und Konsum von Alkohol und anderen Substanzen beschäftigt, um irgendwelche Projekte zu starten. Zombies irgendwo im Limbus zwischen Leben und Tod. Der Rest war auf der Suche nach einer weniger auszehrenden Umgebung.

Der Weg durch die Halle der Scheiße mündete schließlich in einen kleinen dunklen Innenhof, von dem man über Fenster und Mauerdurchbrüche zu weiteren Gebäuden gelangte.

 

Geradeaus führte ein Durchbruch in das Treppenhaus eines verlassenen Wohn und Geschäftshauses. Dahinter gab es zur Rechten eine weitere Halle mit Oberlichtern aus Drahtglas und einem offenen Schacht in den Keller. Dieser hatte früher einen Lastenaufzug beherbergt. Jetzt war der Schacht vollständig mit einem Berg aus unzähligen leerer Zweiliterflaschen Pennerglück gefüllt, der sich am Boden des von den Bewohnern sogenannten Flaschenkellers auf gut drei Meter in die Breite ausdehnte. Bei Sonnenschein wirkten die Flaschen wie ein Filter und der Keller erstrahlte in einem unwirklichen grünen Licht. Es roch muffig, nach Mülleimer, feuchtem alten Gemäuer, pilzig faulendem Holz, etwas nasser Tapete und säuerlichen Rotweinresten.

Weiter geradeaus führte ein breiter Gang zu einem zweiflügeligem Tor an der Friedrichstraße, gelegen auf der südwestlichen Seite des Geländes. Von diesem Gang, der breit genug für kleinere Fahrzeuge war, zweigten zwei weitere Treppenaufgänge ab. Diese führten zu verfallenen Wohnetagen. Hinter dem Tor wartete hoffentlich Siggi mit dem gefüllten Einkaufswagen.

 

Siggi stand geduldig vor dem Tor. Seine Selbstgedrehte, die er zur Überbrückung der Wartezeit angezündet hatte, war fast aufgeraucht. Er warf die Kippe in den Rinnstein, und zu dritt schoben sie den Einkaufswagen Richtung des Treppenhauses am ersten Mauerdurchbruch.

»War in der Kippe nicht noch brauchbarer Tabak?«, fragte Uwe .«Nee, das war bestimmt schon sechzehnte Generation oder so.«Das kannste echt nich nochmal rauchen, is nur noch Teer«, antwortete Siggi. »Na denn«, erwiderte Uwe.

Die hölzernen Stiegen knarzten bedenklich, als die Drei mit Kartoffeln beladen nach oben gingen. Den Einkaufswagen ließen sie unten stehen, der würde sich sicher irgendwann als Grill, Barrikade oder ähnliches gebrauchen lassen. Die Wohnungen, die sie auf dem Weg passierten, waren ausnahmslos unbewohnbar. Sei es durch teilweise durchgefaulte Zwischendecken oder einfach Feuchtigkeit, Schimmel und Mauerschäden. Erst im vierten Stock gab es Richtung Norden einen einzelnen brauchbaren Raum von ca. 4x4 Metern, der einen zweiten Ausgang zum Flachdach Richtung Alte Weyerstraße hatte. Der hatte ursprünglich wohl zur Lagerung von Werkzeug und Material für den Hausmeister gedient.

Ein Teil der Ziegelsteine der Wand zum Flachdach war durch wassergefüllte Rotweinflaschen ersetzt worden die dort vermauert waren. Rechts vom Eingang stand an einer der freien Wände ein alter Kohleofen, der auch zum Kochen benutzt wurde. In der Mitte gab es eine niedrigen Couchtisch auf einem verdreckten alten Orientteppich, dessen Muster kaum noch erkennbar war. Darum gruppiert verschiedene Sitzgelegenheiten, alte Stühle, Europaletten mit Wolldecken und was der Sperrmüll sonst hergab. Auf dem Couchtisch drei Aschenbecher mit aufgebrochenen Zigarettenkippen, aus denen die Tabakreste säuberlich entfernt worden waren, um als Tabak der X-ten Generation in frisch gedrehten Zigaretten wiederverwendet zu werden.

Von der schwachen Glühlampe an der Decke, führte eine dünne zweiadrige Kupferleitung zu einem Brett an der Wand. Auf diesem war eine improvisierten Unterverteilung mit einem einzelnen Sicherungsautomaten, Schalter, Steckdose und offenen Klemmen zur Verteilung aufgebaut. Uwe hatte irgendwo weiter unten im Haus eine Leitung angezapft die noch Strom führte.

Paul und Uwe füllten einen großen emaillierten Topf mit Regenwasser aus einer Tonne auf dem Flachdach und stellten ihn auf den Ofen. Irgendein-Peter und Die-Vier kamen hinzu. Die-Vier war in Wirklichkeit nur einer, ein junger Mann von gut 120kg Körpergewicht. Er trug niemals Schuhe und war so trainiert, dass er tatsächlich auch im Winter darauf verzichten konnte. Seine Füße waren fast Schwarz, die Fußsohlen mit einer extrem dicken Hornhaut überzogen. Die-Vier trank keinen Alkohol und nahm auch sonst keine Drogen. Er war der einzige Bewohner auf dem Gelände, der jeden Morgen aufstand und einer regelmäßigen Tätigkeit nachging. Er hatte seine Bratpfanne, etwas Gemüse, Zwiebeln, Gewürze und Öl mitgebracht.

Auf dem Ofen köchelten inzwischen einige Kilo ungeschälte, grob gereinigte Kartoffeln in gesalzenem Regenwasser aus der Tonne.

 

Irgendein-Peter betrachtete den fleckigen Teppich und bemerkte:«Der hat aber schon bessere Zeiten gesehen.«

»Ja, da ist alles dabei: Bier, Wein, Kotze, Pisse, Blut und Dinge, an die Du gar nicht denken willst!«, sagte Siggi.

»Das ist ein echter Kölner Berberteppich!«, erklärte Uwe.«« Den geben wir zum Auskochen an ein Spezialitätenrestaurant! » Die vier Männer und der eine, den sie die-Vier nannten lachten.

Eine Dreiviertelstunde später gab es Abendessen. Bratkartoffeln mit angebratenen Zwiebeln und Gemüse. Dazu lauwarmes Kölsch und säuerlichen Rotwein aus der Zwei-Liter-Penner-Bombe.

 

Paul hielt es auch diesmal nicht lange im Haus. Er kam meist abends für ein, zwei Stunden, um mit Uwe und den Anderen etwas zu trinken, bevor er am Zülpicher und den anderen Orten vorbeischaute, wo sich Punks und Gleichgesinnte aufhielten. An Tagen wie heute, wenn er bei der Nahrungsbeschaffung mithalf, aß er auch gelegentlich mit.

 

Manchmal aber kam das Essen aus der Mülltonne. Es kam in Form angebissener Pizza, kalter Fritten oder alten Hamburgern, die von den großen Fastfoodketten direkt vom Grill in den Müll geworfen wurden, wenn sie nicht innerhalb von fünfzehn Minuten verkauft wurden. In solchen Fällen mied Paul das gemeinsame Abendmahl.

 

Als er einmal in einem abseits gelegenen Gang auf dem weitläufigen Gelände mehrere säuberlich abgezogene Rattenfelle und frisch gerupfte Taubenfedern samt zugehöriger Innereien entdecke, wurde ihm schlecht.

Es stank bestialisch und die danebenliegenden Rattenschwänze wirkten wie fette Würmer.

 

Paul dämmerte, woher der Geruch nach verbranntem Fleisch rührte, der aus den Bereichen der anderen Gruppen manchmal über das Gelände strich.

Und er verstand auf einmal die Ratatouille-Witze, die Uwe und Siggi ständig machten.

So musste es sich in der Welt der Endzeitfilme anfühlen, die zur Zeit in jedem zweiten Kino rauf und runtergespielt wurden.

Die Gebäude waren nach Kriegsende siebenundreißig Jahre zuvor provisorisch repariert, dann zwei,drei Jahrzehnte genutzt und wieder dem Verfall preisgegeben worden.

»Das Ende der Zivilisation zeigte sich zuerst hier, an Orten wie diesem«, dachte er. Sie waren wie Krebsgeschwüre in den wohlhabenden, scheinbar besseren Orten dieser Welt. Und zu allem Übel standen die Zeichen wieder auf Krieg. Das nukleare Arsenal der Supermächte hatte im Jahr 1982 die Fähigkeit, die gesamte Menschheit einige hundert Male auszulöschen. Man nannte das den Overkill-Faktor. Menschen waren einfach scheiße! Vielleicht wäre ein Atomkrieg ein reinigendes Feuer, das den Planeten endgültig von der Spezies Mensch befreien konnte.

Paul floh für diesen Abend von dem Gelände und seinen morbiden Gedanken, in die bunte Neonwelt der Clubs und Kölner Kneipen zwischen Luxemburger und Zülpicher Straße.

 

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