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Punksplitter
1983, Hannover - Chaostage

1983: Hannovertouristen vor dem Abgrund

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»Hannover, 30. Juni 1983: Rollant, Punk aus Kiel, trampt als 16-Jähriger mit seinen Kumpels zu den Chaostagen. Bereits auf dem Bahnhofsgelände bekommen sie den ersten Schock. Es herrscht ausuferndes Chaos, die Party ist schon in vollem Gange …«

 

Gerd und ich gingen in Richtung Haupteingang, der aus Glastüren bestand. Wir fielen fast aus den Latschen, als wir die Szenerie dort überblickten. Wie die Prätorianergarde, die Leibgarde des römischen Imperators im Film Quo Vadis, standen etwa 60 hühnenhafte Schergen im Halbkreis vor dem Bahnhofseingang. Die Sache sah wirklich bedrohlich aus. Was sollte diese Clownerie? Wir wollten doch nur am Samstag (Freitag, die Red.) zum Konzert in die Kornstraße.

Die Seiteneingänge waren sowieso abgeriegelt, sodass wir alle nur den Haupteingang nehmen oder wieder abreisen konnten. Hier herrschte halt richtiges Chaos. Wir entschieden uns natürlich zu bleiben, und stellten nach kurzer Zeit fest, dass die Polizeikette semipermeabel war, sodass die Punks und Skins zwar in die Hannoveraner Innenstadt abziehen konnten, allerdings nicht aufs Bahnhofsgelände. Es wurden sogar Leute abgewiesen, deren Penntüten in Schließfächern lagen und sicher auch Leute, die einfach nur reisen wollten und in etwas hineingerissen wurden. Die Schergen versuchten zu verhindern, dass am Vorabend der Hauptveranstaltung in der Kornstraße die Szene auf dem Bahnhofsgelände eine Vorabparty feierte. Doch die Party war bereits in vollem Gange. Die Schergen planten anscheinend, den Bahnhof die ganze Nacht über zu blockieren, um zu verhindern, dass die Leute hier ihr Schlafcamp errichteten. Ob diese Aktion nun zur Deeskalation beitrug, sei dahingestellt. Niemand weiß, was abgegangen wäre, wenn die Cops nicht diese semipermeable Kette errichtet hätten. Wir waren stark verwirrt und gingen vom Portal aus wieder in den Bahnhof zurück. Wir tranken beim Flanieren weitere Bierbüchsen und genossen die Atmosphäre.

Der größte Betrieb herrschte am Bierautomaten auf einem der Bahnsteige. Die ganze Zeit fuhr ein übergewichtiger, aggressiver Skinhead ohne Beine mit seinem Rollstuhl durch die Bahnhofshallen. Er produzierte überall, wo er aufkreuzte, leichte Panik, denn er fuhr mit seinem Rolli regelrecht in die Menschentrauben. Dasselbe tat er auch am Bierautomaten. Er drängte die Leute einfach weg, um sich eine Büchse Bier aus dem Automaten zu ziehen. Diese Aktion beunruhigte uns sehr. Er exte das Bier auch gleich weg und schipperte weiter übers Bahnhofsgelände. Der Mann war stark tätowiert und bewegte sich, als würde er an einer Langstreckentour bei den Paralympics teilnehmen. Alle Leute hier waren durch die Polizeiaktion draußen eh schon sehr hochgetunt. Doch trotz des allgegenwärtigen Chaos’ herrschte hier totale Korrektheit unter den Hannovertouristen.

Für den allerletzten Kick sorgte ein Kamerateam, das auch wirklich jede und jeden interviewen wollte, die oder der irgendwie fotogen aussah, und davon gab es hier reichlich Leute. Das Kamerateam musste bloß jedes Mal zur Seite springen, wenn der tätowierte Rollstuhlfahrer heranpreschte.

Hier in Hannover wurde es offensichtlich: Die Übergänge von Punk zu Skin und von Skin zu Punk waren bei vielen Besuchern fließend. Es gab Leute mit Glatzen, die eine Nietenjacke trugen. Es gab reihenweise Punks mit Doc Martens-Stiefeln und mit T-Shirts von Oi!-Bands. Es gab Skins mit Springerstiefeln oder Bomberjackenträger mit etwas längeren oder gefärbten Haaren. Wir sichteten sowohl Punketten mit Glatze als auch Punketten mit einer punkigen Frisur auf der einen Seite des Schädels und einer Glatze auf der anderen. Es war schon ulkig. Pausenlos gelangten neue Gestalten nach Hannover: Iro für Iro, Mohikaner für Mohikaner, Stachelkopf für Stachelkopf, Glatze für Glatze. Scheinbar verhinderten die Cops durch die fatale Absperrung des Hauptbahnhofes, dass die Punks, die aus dem Großraum Hannover kamen, am Abend wieder zurückfahren konnten. War das nun Kalkül?

Oder waren die Chaostage ein Experimentierfeld für die Schergen, die gezielt für größere Einsätze wie Atomtransporte trainieren sollten? Waren wir alle nur die Knallchargen, Dummys und das Kanonenfutter für eine ganz große Sache?

Wenn sich unter den Einsatzleitern nicht mal wieder ein paar Leute befanden, die schon im Dritten Reich die ersten Erfahrungen mit Polizeieinsätzen gesammelt hatten? Oder wurden zuvor sogar Großväter im Seniorenstift um ihren unverzichtbaren Rat gefragt, die im „Idealfall“ Erfahrungen in der „Polizeiarbeit“ seit 1933 vorweisen konnten?

Jetzt wagten wir es den Bahnhof zu verlassen. Wir gingen durch die enge Schneise, die die Schergen offengelassen hatten. Wir bewegten uns ein paar Meter weg vom Bahnhofsgebäude. Überall, wo sich Polizeiaufgebote befanden, waren permanent die Geräusche der Funkgeräte gegenwärtig. Auch wenn die Funkgerätträger, Polizeifunker oder was auch immer, nicht direkt an der laufenden Funkkommunikation beteiligt waren, so waren immerhin ständig Gespräche zwischen irgendwelchen nicht sichtbaren Einsatzbeteiligten zu vernehmen, immer eingeleitet von einem Knacken:

Knack – „Blah, blah, blah“– Knack. Kurze Pause.

Knack – „Blah, blah, blah“– Knack.

Die Schergen, die ihr Funkgerät um die Schulter hängend trugen, gingen währenddessen immer äußerst bedächtig umher, als würden sie einer Symphonie lauschen. Dies Knacken und unverständliche Sprechen begleitet von einem starken Rauschen war natürlich auch aus den parkenden Einsatzfahrzeugen zu vernehmen.

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