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Punksplitter
1979, Hannover, links Bärbel, rechts Klaus Abelmann

1978: Counterculture

Rosa – Erinnerungen an den jungen Punk (3)

von

In der lokalen Szene wurden diejenigen, die man als poser ansah, auch Diskopunks genannt, was mich zunächst irritierte. Es ging dabei jedoch nicht um die Herkunft des Einzelnen aus der Diskoszene, sondern darum, was für Klamotten er trug, ob diese gekauft waren, es sich also um Punkmode handelte, oder ob er abgewetzte oder selbstgemachte Klamotten trug. (8) Wobei diese Kategorie nur auf Jungs angewendet wurde. Punkmädchen wurde das Aufhübschen zugestanden, es wurde sogar erwartet. Je runterer, je ranziger der Typ, desto spektakulärer die Alte. (9)

Es war 1978 und ich ein echter Punk. Meine Hosen waren zerschlissen und wurden von Sicherheitsnadeln und selbsteingenähten Stoffstücken zusammengehalten, möglichst grellem Zeug, Leopardenmuster oder so. (10) Turnschuhe und Boots waren mit Gaffertape umwickelt. Den Marinepullover trug ich noch immer, mit Löchern drin, schließlich war er schon ziemlich alt. Dazu einen Vokuhila-Irokesen und Nietenarmbänder.

Der Bahnhofsvorplatz und diverse Fußgängerzonen wurden unser Aufmarschgebiet, von wo aus wir mit semi-militärischer Systematik Versorgungseinsätze oder Vergnügungsmaßnahmen planten. Supermärkte wurden im Hit-and-run-Stil geplündert. Diese raids schafften es in kurzer Zeit in die Lokalmeldungen, und wir verlegten uns auf weniger spektakuläre Beschaffungen. (11) Jobs wurden grundsätzlich nur dort angenommen, wo sich auch sonst etwas holen ließ – in Buch- und Schallplattengeschäften etwa oder in der Gastronomie. Einer arbeitete bei einem Pharmaziegroßhandel, wo er Captagon und Schmerzmittel abzog, ein anderer in einem Supermarkt, wo er palettenweise Alkohol, Kaffee und Fleischkonserven mit dem Altpapier hinters Haus schaffte.

Wir schliefen in Übungsräumen, im Sommer gerne auch im Freien. Wir wohnten bei Freunden, wenn deren Eltern nicht zu Hause waren. Da wurde dann Samstagnachmittags geduscht und anschließend der Kühlschrank und die Kammern geleert. Die Kids ließen das mit leuchtenden Augen zu, auf diese Weise konnten sie ihre Mittelstandsexistenz transzendieren, ohne sie ganz aufzuheben. Der Bericht über den gerechten Zorn der Eltern gehörte dazu.

Wichtiger Zeitvertreib war das Abhängen an geeigneten Orten, das großspurige Zeigen von Präsenz. Dies unterschied sich vom Rumlungern am Kiosk an der Straßenecke durch den unbedingten Willen aufzufallen, alles sichtbar stattfinden zu lassen, vor einem Publikum, das zufällig an diesen Orten unterwegs waren. Das Verarschen von Passanten, das Inszenieren absurder Szenen wurden bedeutende Beschäftigungen. (12)

Die ganze Zeit über wurde palavert. Doch ging es nicht um KFZ-Technik, sondern um Ideen. Verrückte Ideen für Filme. Plakate. Klamotten. Musik. Lärm. Provokationen. Kunst. Wir fingen an, Vernissagen und avantgardistische Performances zu besuchen. Einerseits gab es da Frauen und Freidrinks, manchmal sogar etwas zu Essen, andererseits war uns auch nicht jede Kunst schlecht. Es kam zu gelegentlichen Vermischungen. Eine Punkband spielte in einer Galerie, Studenten – so nannten wir die Angehörigen der eigentlichen hannoverschen Bohème – gesellten sich an Samstagnachmittagen zu unseren Aufenthalten in der Fußgängerzone und kauften Bier.

Wir kamen immer mehr runter. Je weiter das ging, desto mehr Spaß hatten wir. Ein Typ namens Face war der Coolste. Er war ein echter Dandy, obwohl – damals wusste ich nicht mal, was das ist. Er hatte fast niemals Geld. Wenn doch, gab er es für Dinge aus wie englische Orangenmarmelade und anderes Zeugs aus dem Feinkosthandel, wo man nicht klauen konnte. Solange er konnte, kaufte er nur das Beste und Teuerste. Anschließend klaute er das Beste und Teuerste, wo und wie es eben ging. Face hieß so, weil er ein extrem feines, schön geschnittenes Gesicht hatte, aristokratisch irgendwie, obwohl er so runtergekommen war. Sein Style unterschied sich. Er trug niemals den typischen Schmuck wie Sicherheitsnadeln, Nietenarmbänder oder Ketten. Er hatte ständig – sommers wie winters – einen langen grauen Mantel an, der einstmals sicher ziemlich edel gewesen und jetzt nur noch betonschmuddelfarben war. Darunter trug er Anzüge, die er aus Kleidersammlungen zog, und Rollkragenpullover, alles fast immer in grau, selten schwarz, niemals eine andere Farbe. Eigentlich war er ein Obdachloser, aber einer, der Bass in einer Band spielte.

Bei den Jungs entwickelte sich der Stil – selbstverständlich mit Myriaden feinster Unterschiede im Detail und mannigfaltigen Überschneidungen – generell in drei Richtungen: Es gab die „normalen“, heute klassischen Hardcore-Punks, die mit einem A-im-Kreis und „Schieß doch Bulle“ auf der Motorradlederjacke explizit politisch sein wollten und dazu aufwändige Stachelhaare in grün und rot trugen. Dann gab es die Anzugjackenträger. Auch die bemalten ihre Klamotten und behängten sie mit Ketten und Buttons. Die Haare trugen sie kurz und spitz aufgestellt wie Johnny Rotten. (13) Und es gab eine kleinere Gruppe, die inzwischen auf Schmuck, Gadgets und Aufschriften verzichtete, gerade weil diese Dinge bei den anderen so beliebt waren. Zu dieser Gruppe gehörte ich. Es war ein letztlich dunkler, ganz verkommener Style, hart, kaputt, nur selten gab es farbige Highlights wie die rote Motorradjacke eines Typen namens Wixer („In der ist schon mal einer gestorben.“). Prätentiöse Verwahrlosung war auch so ein Begriff, den ich noch nicht kannte.

Daneben gab es noch eine kleine Szene von Intellektuellen und Musikern, die vom Punk als musikalischer und stilistischer Entwicklung zwar beeinflusst waren, sich aber nicht zugehörig fühlten, autonom bleiben wollten, sich sogar distanzierten, ohne wirklich ganz davon wegzukommen in einem so übersichtlichen Gemeinwesen wie Hannover. Die hatten allerdings auch ein konkretes Vorwissen über den Situationismus oder Lou Reed oder Krautrock. Sie kleideten sich betont neutral, unauffällig, fast bürgerlich, unter allergeringster Verwendung von Gadgets und Schmuck, der häufig weniger new wave war als vielmehr generell counterculture. (14)

Als alternatives Outfit, das ich fake popper nannte, trug ich manchmal einen weiten hellblauen Pullover, den eine Freundin an der Strickmaschine ihrer Mutter gefertigt hatte, dazu zerschlissene Hochwasserkarottenjeans und spitze schwarze Halbschuhe. Den Iro kämmte ich zur Seite, was Proto-Emo aussah. In diesem Outfit lernte ich Frauen aus der Studenten-Szene kennen, es wirkte einfach nicht so abschreckend – bzw. im Gegenteil, es hatte was. (15)

 

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